München. Was treibt die Deutschen um? Edgar Reitz hat sich seit den 1980er Jahren dazu Gedanken gemacht. Herausgekommen ist das monumentale Filmepos „Heimat“. Nun wird der Regisseur 90 – und hat noch große Pläne.
Wer Filme dreht, nähert sich dem Thema oft mit akribischer Recherche und Fantasie an. Bei Edgar Reitz kommt noch etwas hinzu: eigene Erfahrungen. Denn so manche Zeiten, um die es in seinen Filmen geht, hat er selbst erlebt. Unser aller Leben sei von Ort und Zeit geprägt. „Insofern sehe ich mich beim Erzählen meiner fiktionalen Geschichten auch als Chronist der konkreten Zeitumstände“, sagte der in München lebende Filmemacher der Deutschen Presse-Agentur anlässlich seines 90. Geburtstages am 1. November.
Aufgewachsen ist Reitz im Hunsrück, in Morbach. Nach München kam er fürs Studium, wo er sich von der Elektrotechnik auf Germanistik, Theaterwissenschaft, Publizistik und Kunstgeschichte verlegte. Er schrieb Gedichte und Erzählungen und war Mitgründer der Zeitschrift „Spuren“. Interessen, die ihm auch den Weg zum Film ebneten. Bald führte Reitz Regie und schrieb. Auch am Oberhausener Manifest 1962 für ein neues deutsches Kino beteiligte er sich, mit Gleichgesinnten wie Alexander Kluge.
Von Publikum und Kritik gefeiert
In den Jahren danach entstanden Filme wie „Mahlzeiten“, „Stunde Null“ oder der sehr aufwendige und teure Streifen „Der Schneider von Ulm“. 1984 folgte sein bis dahin wohl größter Erfolg: Die elfteilige Fernsehserie „Heimat – Eine deutsche Chronik“ über einen Mann, der aus dem Ersten Weltkrieg in das fiktive Hunsrück-Dorf Schabbach heimkehrt. Es folgten der 13-Teiler „Die zweite Heimat – Chronik einer Jugend“ über Studenten in den 1960er Jahren, „Heimat 3 – Chronik einer Zeitenwende“ mit sechs Teilen, die auch die Wiedervereinigung umfassen, und schließlich der Kinofilm „Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht“ über zwei Brüder, die Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem Hunsrück nach Südamerika auswandern wollen.
Von Kritikern und Publikum wurde Reitz gefeiert und mit vielen Preisen bedacht. Erst Anfang September war er deshalb auch mal wieder in Venedig. Am Rande der Filmfestspiele bekam er einen Sonderpreis – 30 Jahre, nachdem sein Filmepos „Die zweite Heimat“ dort Premiere gefeiert hatte. Aus diesem Anlass äußerte er sich auch dazu, was Heimat heute für ihn bedeutet: „Heimat ist in unserer Zeit kein fester Ort mehr und kein persönlicher Besitz, sondern eine Sehnsucht nach der verlorenen Geborgenheit der Kindheit“.
Streaming als Chance
Die Motivation für sein Schaffen beschrieb Reitz 2013 in einem Interview mit dem „SZ-Magazin“: „Das Vergängliche haltbar zu machen, das ist für mich der elementare Grund zur künstlerischen Betätigung“. Streaminganbieter wie Netflix begreift er als Chance. Bei den von den Videoportalen angebotenen Serien sei der Qualitätsanspruch enorm gewachsen. „Das ist das einzige Gebiet, wo sich ein neuer Markt, ein neuer Horizont für Qualität auftut“, sagte er vor einigen Jahren anlässlich einer Werkschau im Nürnberger Filmhaus.
Dass seine Werke nicht nur unterhalten, sondern gesellschaftlich von großem Wert sind, machte die Deutsche Filmakademie deutlich, als sie den Regisseur 2020 mit dem Ehrenpreis bedachte. „Edgar Reitz hat vor allem mit seinen „Heimat“-Filmen unvergesslich poetische Menschen und Bilder erfunden“, so die Begründung. Und er habe gezeigt, dass das „aufgeladene Wort „Heimat“ zu komplex“ sei, um es den „Nationalisten vom rechten Rand“ zu überlassen.
Reitz hat Pläne, wie er in Venedig verriet: „Ein größeres Spielfilmprojekt, an dem ich seit über zehn Jahren arbeite, sollte aber erst nach meinem 90. Geburtstag in Angriff genommen werden. Ich hoffe natürlich, meine kreativen Kräfte noch so lange in vollem Umfang nutzen zu können.“
Quelle: 01. November 2022, dpa, Cordula Dieckmann
Foto: Günter Endres
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